Marcel Dirsus: Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen können
Was hält Diktatoren an der Macht und was – oder besser gesagt wer – kann sie zu Fall bringen? Marcel Dirsus zeigt anschaulich, dass Autokraten auf die Loyalität ihrer Eliten angewiesen sind und dass Bedrohungen von außen, wie Proteste oder Sanktionen, nur unter bestimmten Voraussetzungen wirken. Daher plädiert er für eine „pragmatische, nüchtern kalkulierende“ Außenpolitik von Demokratien im Umgang mit autoritären Regimen. Unser Rezensent David Kuehn lobt das Buch als hervorragend recherchiert, durchdacht strukturiert und trotz der düsteren Thematik ausgesprochen lesbar.
Eine Rezension von David Kuehn
Es ist mittlerweile ein Klischee: Francis Fukuyama hat sich geirrt. Der Zusammenbruch des Ostblocks am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutete nicht das „Ende der Geschichte“, in dem sich Marktwirtschaft und liberale Demokratie weltweit als unangefochtenes Erfolgsmodell durchsetzen würden. Stattdessen beobachten wir seit Mitte der 2000er-Jahre eine zunächst schleichende, inzwischen manifeste Rückkehr autoritärer Ordnungen: Nationalistische Bewegungen prägen Wahlen und Diskurse, autokratische Herrschaftsformen erweisen sich als erstaunlich resilient, und demokratische Institutionen geraten selbst in langjährigen Demokratien unter Druck.
Der aktuelle Demokratiebericht des Varieties of Democracy-Instituts in Göteborg dokumentiert diesen Trend in Zahlen: Demnach lebten im Jahr 2024 über 70 Prozent der Weltbevölkerung unter autokratischer Herrschaft, und für das erste Mal seit 20 Jahren gab es mehr Autokratien auf der Welt als demokratisch regierte Länder. Doch trotz ihrer wachsenden Präsenz bleibt das Verständnis vom Innenleben autoritärer Regime oft vage. Wie bleiben Diktatoren an der Macht? Was – und wer – bringt sie zu Fall? Und was folgt daraus für Demokratien, die mit autoritären Regimen umgehen müssen?
Diesen Fragen widmet sich der Kieler Politikwissenschaftler Marcel Dirsus in seinem Buch „Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen können“. Der Band will zeigen, wie Diktaturen funktionieren, wie sie ihr Bestehen sichern – und vor allem: wie sie fallen. Dabei rezipiert Dirsus aktuelle Beiträge der vergleichenden politikwissenschaftlichen Autoritarismusforschung – etwa zu Elitenloyalität, Repression, Protest oder zivil-militärischen Beziehungen – und ergänzt sie durch eigene Recherchen und Interviews mit Zeitzeugen, Journalist*innen und Politiker*innen.
Wie halten sich Diktatoren an der Macht?
Zu Beginn seines Buches beschreibt Dirsus die Lebensrealität eines Diktators als permanente Gratwanderung – er spricht von der „Tretmühle des Diktators“. Anders als gewählte Regierungschefs in liberalen Demokratien, für die ein Machtverlust meist nur mit Ansehensverlust und dem Ende politischer Gestaltungsmöglichkeiten einhergeht, steht für Autokraten weit mehr auf dem Spiel: Gefängnis, Exil, Enteignung – oder Tod. Wer als Diktator fällt, verliert nicht nur Einfluss und Status, sondern riskiert Leib, Leben und die Sicherheit seiner Familie.
Diese existenzielle Bedrohung führe dazu, dass Diktatoren ständig auf der Hut sein müssten vor realen wie vor eingebildeten Feinden. Sie herrschten in einem System struktureller Unsicherheit, das ständige Kontrolle und Absicherung verlange. Entscheidend ist dabei eine zentrale Einsicht, die Dirsus aus der Autoritarismusforschung aufgreift und anschaulich vermittelt: Kein Diktator regiert allein.
Vielmehr braucht jeder Autokrat eine „Regimekoalition“, ein Bündnis aus Schlüsselakteuren, das seinen Machterhalt absichert. Dazu zählten typischerweise hohe Militärs, Geheimdienstchefs, einflussreiche Bürokraten, Parteifunktionäre oder wirtschaftliche Eliten wie Oligarchen. Ihre Loyalität sei nicht selbstverständlich, sondern müsse fortwährend gesichert werden: durch Privilegien, Zugang zu Ressourcen, politische Immunität und persönliche Nähe zur Macht, sowie durch Kontrolle und brutale Repression.
Die Beziehung zwischen Diktator und Regimekoalition ist Dirsus zufolge also kein Vertrauensverhältnis, sondern ein System wechselseitiger Erpressung; ein ständiger Balanceakt zwischen Patronage und Überwachung, zwischen dem Versprechen von Vorteilen und der Androhung von Gewalt.
Die Gefahr aus der Regimekoalition
Zunächst diskutiert Dirsus daher die Bedrohung des Diktators aus der eigenen Regimekoalition. Sie sei essenziell für seinen Machterhalt, aber auch zugleich sein größtes Risiko: In den meisten Fällen komme der Sturz eines Diktators aus dem engsten Kreis jener, die ihn zuvor noch gestützt hätten. Ihre Motivation folge dabei einer einfachen Logik: Wenn der Preis für die Unterstützung des Regimes zu hoch wird – etwa durch wachsende Repression, eine ökonomische Krise oder eine Krankheit des Diktators – droht ihre Unterstützung zu bröckeln.
Der Autor zeigt auch, welche herausragende Rolle dabei insbesondere dem Militär zukommt. Es sei wegen seiner Organisation und Verfügungsgewalt über Waffen zugleich Rückgrat der autokratischen Ordnung und potenzieller Königsmacher für einen autokratischen Nachfolger. Zur Lösung dieses Dilemmas griffen Diktatoren auf die verbreitete Praxis des „coup proofing“ zurück. Dies beschreibt den Versuch, die Putschfähigkeit des Militärs durch gezielte Fragmentierung, Überwachung oder die Etablierung paralleler Sicherheitskräfte wie Präsidentengarden zu schwächen.
Ein zentrales Mittel zur Absicherung gegen einen Elitenputsch ist die Auswahl nach Loyalität. Wer in einer Autokratie aufsteige, sei oft nicht der Fähigste, sondern der Vertrauenswürdigste. Doch diese Strategie hat ihren Preis: Sie produziere inkompetente Führungsstrukturen – unfähige Beamte und Geheimdienstler und Militärs, die zwar zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung in der Lage seien, im Krieg gegen andere Staaten jedoch schnell an ihre Grenzen stießen. Dirsus zeigt, dass diese systematische Dysfunktion ein Grund für die oft desaströse Performance autokratischer Armeen ist – von der irakischen Armee unter Saddam Hussein bis zum gegenwärtigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
Die Bedrohung von außen
Doch selbst wenn es einem Diktator gelingt, sein Netzwerk loyaler Eliten bei Laune und durch Repression in Schach zu halten, bleiben immer noch Bedrohungen von außerhalb der Regimekoalition: Protestbewegungen, Aufstände, Attentate oder internationale Sanktionen. In vier Kapiteln widmet sich Dirsus diesen externen Risikofaktoren.
Ein zentrales Thema ist dabei der zivilgesellschaftliche, friedliche Widerstand. Fallbeispiele wie der Arabische Frühling, die Proteste im Sudan oder die Bewegung gegen das Militärregime in Myanmar zeigen: Massenproteste können Diktaturen erschüttern – insbesondere dann, wenn sie sich schnell ausweiten, internationale Aufmerksamkeit erzeugen und vor allem: Wenn sie das Handeln der Eliten beeinflussen. Zentral ist laut Dirsus daher auch weniger die Mobilisierung „von unten“ per se als erneut die Reaktion der Regimekoalition: Kommt es zur Spaltung innerhalb der Machtelite oder zum Bruch zwischen Diktator und Militär, steige die Wahrscheinlichkeit eines Regimewechsels rapide, weil sich Teile der alten Eliten auf die Seiten der Protestierenden schlagen könnten. Daraus folge, dass erfolgreiche Revolutionen die Ausnahme blieben und Protestbewegungen in der Regel nicht zum Diktatorensturz führten, wenn die Eliten geeint blieben und das Militär fest an der Seite des Regimes stehe. In solchen Fällen endeten Massendemonstrationen in der Regel in einem Blutbad, wie etwa auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, 1989.
Auch die Rolle von Attentaten, Sanktionen und militärischer Intervention wird im Buch differenziert bewertet. Zwar erscheint ihr Effekt in der öffentlichen Wahrnehmung oft spektakulär – die Realität ist jedoch ernüchternd: In den meisten Fällen führten Attentate nicht zu einem Systemwechsel, sondern lediglich zum Austausch an der Spitze. Und Sanktionen, so Dirsus, entfalteten nur dann transformative Wirkung, wenn sie das Machtkalkül innerhalb der Regimekoalition verändern – etwa indem sie ökonomischen Druck auf die Eliten ausüben.
Besonders klar fällt Dirsus’ Urteil über externe „Regime-Change“-Interventionen aus: Ihre Erfolgsgeschichte ist dünn. Den wenigen historischen Beispielen gelungener Demokratisierung unter Gewaltanwendung – etwa Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg – stehen zahlreiche katastrophale Fehlschläge gegenüber: Irak, Libyen, Afghanistan. Hier führten militärische Interventionen nicht zum Aufbau stabiler demokratischer Ordnungen, sondern zu Gewaltspiralen, Staatszerfall und anhaltendem Leid für die Bevölkerung.
Was folgt daraus für den Umgang mit Autokraten?
Wenn militärische Interventionen kaum je gelingen und auch Massenproteste nur unter günstigen Bedingungen erfolgreich sind, was können Demokratien realistischerweise tun, um auf autoritäre Regime einzuwirken? Dirsus plädiert für eine pragmatische, nüchtern kalkulierende Außenpolitik – und warnt zugleich eindringlich vor moralischer Selbstüberhöhung. Demokratien seien gut beraten, ihre Einflussmöglichkeiten nicht zu überschätzen, nicht zuletzt, weil der Sturz eines Diktators selten das eigentliche Problem löse.
In Kapitel 8, treffend betitelt „Vorsicht vor dem, was man sich wünscht“, argumentiert Dirsus: Auf das Ende einer Diktatur folge keineswegs automatisch eine liberale Demokratie. Im Gegenteil; allzu häufig komme es zu Machtvakuum, Chaos oder einem Nachfolgesystem, das noch repressiver sei als das ursprüngliche. Wer einen Diktator zu Fall bringt, ohne zu wissen, was folgt, riskiere, den Weg für ein neues Unrechtssystem zu ebnen – mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung.
Stattdessen empfiehlt Dirsus eine langfristige, indirekte Strategie: Ziel sollte es nicht sein, Autokratien von außen zu stürzen, sondern ihre inneren Stabilitätsmechanismen zu schwächen. Konkret bedeutet das: Die Unterstützung von außen verringern, etwa durch Einschränkungen bei Militärhilfen oder Sicherheitskooperationen, die dem Diktator helfen, sich gegen seine Gegner im Inneren abzusichern. Repressionskapazitäten schwächen, etwa durch Exportkontrollen für Überwachungstechnologie oder durch internationale Ächtung brutaler Sicherheitskräfte. Gezielte Sanktionen gegen einzelne Mitglieder der Regimekoalition verhängen, um deren Loyalität zum Diktator zu unterminieren.
Besonders bemerkenswert ist Dirsus’ Hinweis auf einen oft übersehenen Hebel: das Angebot eines sicheren Exils. Wenn ein Diktator unter Druck steht, kann ein glaubhaftes Exit-Szenario einen Ausweg bieten und so die Eskalation in ein blutiges Finale verhindern. Der Gang in einen friedlichen Lebensabend im Exil mag moralisch unbefriedigend erscheinen, ist aber in vielen Fällen das kleinere Übel im Vergleich zu massenhaften Repressionen, Bürgerkrieg oder einem gewaltsamen Machtwechsel.
Dirsus entwirft damit keinen Masterplan zur Demokratisierung der Welt – aber eine realistische Handlungsanleitung für den Umgang mit Autokratien, die nicht auf Wunschdenken beruht, sondern auf der nüchternen Analyse politischer Möglichkeiten.
An wen richtet sich Dirsus‘ Buch?
Mit „Wie Diktatoren stürzen“ legt Marcel Dirsus ein hervorragend recherchiertes, durchdacht strukturiertes und – trotz der düsteren Thematik – ausgesprochen lesbares Buch vor. Es gelingt ihm, komplexe politikwissenschaftliche Erkenntnisse über autokratische Herrschaftsmechanismen so aufzubereiten, dass sie auch für ein breites Publikum nachvollziehbar und anregend sind, ohne dabei an analytischer Substanz zu verlieren.
Besonders hervorzuheben sind die vielfältigen und klug gewählten Fallbeispiele, die zentrale Argumente anschaulich illustrieren, etwa die eindrucksvolle Schilderung eines DDR-Revolutionärs in den letzten Tagen der SED-Herrschaft. Dirsus beweist dabei ein feines Gespür für politische Zwischentöne und verweist auch auf die nicht-intendierten Folgen gut gemeinter Neuerungen: So etwa beim Internationalen Strafgerichtshof, dessen Existenz dazu führen kann, dass Diktatoren keinen Anreiz mehr haben, das Land friedlich zu verlassen, weil ihnen im Exil juristische Verfolgung droht. Der Effekt: Die Schwelle zu einem gewaltsamen „Rückzug“ steigt. Vieles in der Welt der Autokraten ist komplizierter, als es scheint, und Dirsus benennt das offen.
Einige wenige kritische Anmerkungen seien dennoch erlaubt. Dirsus konzentriert sich konsequent auf die Handlungsoptionen zentraler Akteure – ein Ansatz, der analytisch schlüssig und inhaltlich gut begründet ist. Dabei geraten jedoch strukturelle und institutionelle Faktoren gelegentlich aus dem Blick. Zu nennen sind hier etwa der Typus autokratischer Herrschaft, ihre sozioökonomischen Grundlagen oder die internationale Einbettung autoritärer Regime. Ebenso wäre, gerade mit Blick auf Übergänge zur Demokratie, eine intensivere Auseinandersetzung mit der Demokratisierungs- und Konsolidierungsforschung wünschenswert gewesen. Diese hat beispielsweise herausgearbeitet, dass die Einführung demokratischer Wahlen durchaus im Interesse des Diktators und seiner Koalition liegen kann – etwa dann, wenn die Aussicht besteht, auch nach einem Regimewandel an der Macht zu bleiben, oder wenn durch sogenannte Übergangspakte bestimmte politische und materielle Vorrechte der alten Eliten gesichert werden. Solche strategischen Optionen werden in „Wie Diktatoren stürzen nicht“ ausreichend gewürdigt.
Schließlich gilt: Die präsentierten Befunde und Schlussfolgerungen sind nicht neu – und erheben auch keinen Anspruch auf theoretische oder empirische Originalität. Dirsus verfolgt kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse im engeren Sinn; er entwickelt weder neue Theorien noch analysiert er eigenständig erhobene Datensätze oder bislang unerschlossene Quellen. Ziel ist vielmehr die systematische, allgemein verständliche Darstellung und Kontextualisierung des Forschungsstandes – und genau das gelingt ihm auf bemerkenswerte Weise.
Dass dieser Brückenschlag zwischen Wissenschaft und breitenwirksamer Rezeption erfolgreich ist, ist nicht zuletzt der gelungenen Übersetzung von Sylvia Bieker und Henriette Zeltner-Shane zu verdanken, die den Ton des englischsprachigen Originals in ein geschmeidiges, präzises Deutsch übertragen.
Wie „Diktatoren stürzen“ ist damit ein Buch, das Journalist*innen, politisch Interessierte und Studierende gleichermaßen gewinnbringend lesen werden. Wer sich einen fundierten, gut lesbaren Überblick darüber verschaffen will, wie Autokratien funktionieren, woran sie scheitern – und warum sie häufig eben nicht scheitern, findet hier einen exzellenten Einstieg. Die Lektüre ist uneingeschränkt empfohlen.