Nils C. Kumkar: Polarisierung. Die Ordnung der Politik
Lost in Polarisation? Der Soziologe Nils C. Kumkar erforscht, warum die Rede von der Polarisierung so erfolgreich ist, obwohl die Einstellungen der Bevölkerung keineswegs so gespalten sind, wie häufig behauptet wird. Er argumentiert, dass Polarisierung als „kommunikatives Ordnungsmuster“ nicht nur unvermeidbar, sondern notwendig ist. Fabian Rasem vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) lobt Kumkars Analyse als klar, produktiv und erhellend.
Eine Rezension von Fabian Rasem
Wer sich nicht ernüchtert vom Nachrichtengeschehen abgewendet hat, kommt wohl kaum um den Eindruck herum, dass die politischen Debatten in Deutschland konfrontativ und hitzig verlaufen: Ein 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen erscheint den einen als ‚überfällige Kehrtwende‘, den anderen als ‚Wählertäuschung‘ und ‚Staatsstreich‘, die Sicherheitspolitik wird zwischen ‚Kriegstreibern‘ gegen ‚Lumpenpazifisten‘ ausgemacht und in demokratiepolitischen Fragen stehen ‚grüne und linke Spinner‘ gegen ‚Faschisten‘ und ihre ‚Steigbügelhalter‘. Gleichzeitig berichtet die soziologische Einstellungsforschung glaubhaft und relativ geschlossen, dass die deutsche Bevölkerung nicht in einheitliche antagonistische Lager zerfalle[1]. Die öffentliche Debatte über die gesellschaftliche Spaltung wirkt demnach selbst merkwürdig gespalten, zumindest aber festgefahren. Verhärtete Gemüter hier, differenzierte Empirie dort und mittendrin Feuilleton und Demoskopie, die sich in der Kurzatmigkeit medialer Kontroversen einen Reim auf das Geschehen zu machen versuchen: Wie polarisiert ist die Bundesrepublik nun also?
Der Bremer Soziologe Nils C. Kumkar geht davon aus, dass diese und ähnlich lautende Fragen „falsch gestellt“ (12) sind und dass gerade sie das „Weiterdenken und -machen nachhaltig blockieren“ (7). Denn: Die Einstellungen seien nicht polarisiert und würden es vermutlich auch in absehbarer Zeit nicht sein. Das heiße aber freilich noch nicht, dass die Träger*innen von Polarisierungssorgen schief gewickelt sind. Kumkar unterbreitet in seinem Essay ‚Polarisierung. Die Ordnung der Politik‘ deswegen einen konstruktiven „Perspektivverschiebungsvorschlag“ (28): Weg von der Suche nach verborgenen Einstellungsgräben, hin zu verschiedenen strukturellen Wurzeln der kollektiven Polarisierungswahrnehmung, die er in den funktionalen Grundanforderungen moderner Gesellschaften angelegt sieht und von der Seite sozialer Kommunikationsstrukturen her beleuchtet.
Don′t you know? Talking about polarization…
Kumkars theoretische „Sortierarbeit während einer laufenden Debatte“ (28) ist – so viel darf schon zu Beginn verraten sein – als Gesamtentwurf das Produktivste, was in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum zu diesem Thema geschrieben wurde. Sie beginnt mit einem Blick auf das alltägliche „Polarisierungserleben“ (59). Was es damit auf sich hat, versucht Kumkar zunächst durch die Untersuchung von Gruppeninterviews, die er gemeinsam mit Bremer Kolleg*innen erhoben hat, in Erfahrung zu bringen. In Einklang mit anderen Autor*innen[2] streicht er dabei einerseits die vielfältige Interpretierbarkeit und breite Anschlussfähigkeit der Polarisierungssemantik heraus. Was Menschen meinen, wenn sie eine Situation oder die Gesellschaft alltagssprachlich als ‚polarisiert‘ problematisieren, variiere in Abhängigkeit vom sozialen Standort der Sprecher*innen und ihren Vorstellungen vom gesellschaftlichen Miteinander: Wo etwa Ingenieur*innen die ausbleibende Bearbeitung drängender Probleme beklagten und Küchenhilfen das fehlende Gehör für statusniedere Gruppen, da monierten Lehrer*innen vor allem fehlende Verständnisorientierung im diskursiven Miteinander (47-57). Obendrein zeige sich, „dass die Spaltungsvorstellungen der einen sogar die Zusammenhaltsvorstellungen der anderen sein können“ (39).
Nichtsdestoweniger erkennt Kumkar „über all diese Diversität hinweg“ in den Äußerungen der Gesprächsteilnehmer*innen eine „minimale, abhebbare Gemeinsamkeit“ (58): Die Diskutierenden stießen sich weniger an den inhaltlichen Positionen als an der „Art, in der über diese Standpunkte (nicht) gesprochen wird“ (53). Das veranschaulicht Kumkar in der Erzählung von einem Weihnachtsessen, bei dem die interviewte Gastgeberin mit krampfhafter Mühe versucht, die schwelende Spannung zwischen einer ‚Putin-Versteherin‘ und einem ‚Nato-Versteher‘ aus dem Tischgespräch herauszuhalten – und es letztlich doch ‚knallt‘. In Kumkars Analyse entpuppt sich hierbei die zunächst latent drohende und dann „erfolgte Eskalation der Situation“ selbst als das für den Polarisierungsdiskurs paradigmatisch „eigentliche Problem“ (52). Das ist konflikttheoretisch überzeugend, denn anders wäre kaum zu erklären, dass Themen wie die Klimakrise, ohne dass es großartige Verschiebungen in den betreffenden Einstellungen gegeben hätte, vor vier Jahren wahlentscheidend waren und heute eine diskursive Randnotiz sind.
Als ob, ey!
Kumkars theoretische „Ausgangswette“ (61) ist nun, dass sich das kollektive Polarisierungserleben nicht im jeweiligen Eifer der Gefechte erschöpft, sondern dass sich im Sinne einer „Minimaldefinition“ (39) von „Polarisierung als Ordnungsmuster von Kommunikation“ (61) sprechen lässt. Zur Illustration nutzt Kumkar das Bild eines Magnetfelds: Wie bei Magneten, stelle Polarisierung dasjenige Muster dar, das sich einstellt, wenn sich ein politischer Diskurs „in seiner Gesamtheit“ auf zwei Extrempole „ausrichtet“ (62). Indem Kumkar Polarisierung hierbei kommunikativ und nicht statisch auffasst, gelingt ihm der Kunstgriff, die zunächst widersprüchlich wirkende „Diskrepanz zwischen der erlebten und der gemessenen Themenpolarisierung“ (149) aufzulösen.
Die Kernidee der ‚kommunikativen Polarisierung‘ lässt sich dabei gut – wie Kumkar zuletzt in einem Interview nahegelegt hat[3] – entlang der Logik eines ‚als ob‘ verstehen: Zentral für einen polarisierten Diskurs ist nicht, dass es eine dem kommunikativen Polarisierungserleben zugrundeliegende Einstellungspolarisierung gibt. Vielmehr ist wesentlich, dass dieser Diskurs sich kommunikativ „einerseits immer wieder so aufbaut, als ließe sich ein einfacher Zwei-Lager-Konflikt unterstellen, und dass e[r] andererseits aber genau damit diesen Zwei-Lager-Konflikt in all seinen Konsequenzen erzeugt“.
Aber wieso in drei Teufels Namen sollten Diskurse und Akteur*innen einer solchen ‚als ob‘-Logik folgen? Das argumentative Vorgehen Kumkars bei der Beantwortung dieser Frage liegt darin, kapitelweise Polarisierungsdynamiken in drei wesentlichen gesellschaftlichen Settings in den Blick zu nehmen: auf Social-Media-Plattformen, im politischen System und in der klassischen medialen Öffentlichkeit. Dabei räumt Kumkar zunächst jeweils ‚Glaubenssätze‘ im „Common-Sense-Verständnis von Polarisierung“ (213) ab, sodass die darin angelegte „Blickverkürzung, Vereinseitigung und Irreführung“ (7) produktiv irritiert wird. Darunter fallen etwa die Alltagsheuristiken von Echokammern, Rabbitholes und dem Niedergang von Gatekeeper*innen, aber auch das Bauchgefühl, dass früher alles besonnener und einiger zugegangen sei, weist er empirisch begründet zurück. Im Nachgang kann Kumkar dann stets dezidierter auf die strukturelle ‚Situation‘ blicken, innerhalb der Akteur*innen in diesen drei Bereichen navigieren müssen und zu Strategien kommunikativer Polarisierung greifen. Systemische ‚Komplexitätsprobleme‘, ‚Inklusionsprobleme‘ und Strukturen der Aufmerksamkeitsökonomie machen das Auftreten von Polarisierung für Kumkar letztlich nicht nur hochgradig wahrscheinlich, sondern gewissermaßen funktional notwendig.
Die neue polarisierte Übersichtlichkeit
Erstens rekonstruiert Kumkar, dass kommunikative Polarisierung die Funktion erfülle, Übersicht und Eindeutigkeit innerhalb einer notorisch überfordernden Kommunikationslandschaft auf Social-Media-Plattformen sicherzustellen. Dieser systemtheoretisch naheliegende Gedankengang klingt in der hier gebotenen Verknappung banaler als er ist. Denn Kumkar seziert anhand eines Trolling-Falls präzise die Besonderheit der Pseudonymität, der Größe und Vielfalt von Publika, der Schnelligkeit, Gleichzeitigkeit und Re-Inszenierbarkeit von Äußerungen, die die kommunikative ‚Situation‘ auf Plattformen wie Twitter/X prägen. Die dadurch entstehende „grandiose Überlastung der Kommunikation durch soziale Komplexität“ (100), werde durch „die radikale Reduktion der thematischen Komplexität einer Diskussion auf ein zweipoliges Schema“ (74) kompensierbar. Die Pointe von Kumkars Rekonstruktion liegt dabei darin, dass die Nutzer*innen diese Reduktion im Gros nicht willentlich betreiben und Debatten bewusst eskalieren, sondern antizipativ. Sie stellten sich quasi-unbewusst auf das situative Setting einer tendenziell konflikthaften öffentlichen Onlinekommunikation ein: Um gehört, aber zugleich nicht missverstanden zu werden, wähle man eine „Strategie des kleinsten gemeinsamen Nenners“ (103), wobei man zum „kleinsten gemeinsamen Nenner gerade den geteilten Bezug auf einen vorausgesetzten Konflikt“ (104) macht. Selbst wenn Nutzer*innen sich keinem Extrempol zurechnen und diskursiv nicht anecken wollen, kennzeichneten sie dies in der Regel durch eine Distanzierung von den Polen – und bestärkten dadurch implizit das polarisierte Ordnungsmuster. Polarisierung sei deshalb in der Tat weniger ein „Bug“ der Plattformisierung von Kommunikation als „eine unintendierte Nebenfolge eines ihrer wichtigsten Features, nämlich der Demokratisierung des Diskurses“ (75).
Divide et integra!
Zweitens bediene die kommunikative Zuspitzung von Diskursen und die dadurch bewirkte Heraufbeschwörung einer krisenhaften Entscheidungssituationen zwischen zwei Alternativen eine zentrale „Integrationsfunktion für das politische System“ (135). Wo sich moderne demokratische Systeme durch eine „doppelte Spaltung“ (123) zwischen politischen Repräsentant*innen und bürgerschaftlichem Publikum einerseits sowie den Repräsentant*innen von Regierung und jenen der Opposition andererseits auszeichneten, da gewährleistet die kommunikative Polarisierung von Konflikten konkret zweierlei: Zum einen, dass die Konkurrenz zwischen Opposition und Regierung konturiert und die Entscheidungen der Regierung gegenüber dem Publikum responsiv blieben, weil diese drohe, andernfalls die nächste Wahl zu verlieren (124 f.). Zum anderen stelle kommunikative Polarisierung auch eine „erwartbare Lösung für das Problem der Inklusion des Publikums der Politik“ (116) dar, weil das Publikum durch die Polarisierungskommunikation in politische Debatten „hineingezogen“ (116) werde und „sich gedrängt sieht, darin Partei zu ergreifen“ (131). Gerade wo es mithilfe eines eigenen Politikprojekts kaum gelinge, inhaltliche Spannungen zwischen vielfältigen und über Kreuz liegenden Einstellungen in der Bevölkerung zu integrieren, da ermögliche die Heraufbeschwörung inhaltlicher Gegnerschaft es, Bürger*innen „gegen ein imaginiertes politisches Projekt der Gegenseite“ (138) zusammenzuschweißen und zu mobilisieren. Paradoxerweise – so ließe sich Kumkars Argumentation (138 f.) zuspitzen – braucht es demnach womöglich sogar umso mehr kommunikative Polarisierung, je weniger sich inhaltliche Einstellungen zu Politikfragen in klar umrissenen Lagern bündeln.
Unglaublich! DAS passiert, wenn Sie jeden Tag polarisieren!
Drittens macht Kumkar darauf aufmerksam, dass in der Systemlogik nationaler Massenmedien der Nachrichtenwert politischer Ereignisse und Äußerungen steige, wenn diese konflikthaft, dringlich, quantifizierbar und anschlussfähig an gesellschaftliche Makro-Narrative scheinen. Die Struktur selbst prämiere also eine polarisierte und polarisierende Berichterstattung – „Polarisierung sells“ (171). Das münde darin, „dass auf Zeitungsseiten und Fernsehbildschirmen überproportional viele Meldungen auftauchen, die sich zu einem Bild zugespitzter gesellschaftlicher Konflikte aufaddieren“ (152). Kluge Ergänzungen dieser vergleichsweise bekannten aufmerksamkeitsökonomischen Grunddynamik liefert Kumkar zum einem in dem Hinweis, dass sich ein Zustand kommunikativer Polarisierung durch Effekte „der gegenseitigen Beobachtung von Politik und Publikum über die Massenmedien“ (161) nicht bloß verstetige. Er werde auch verstärkt, weil „die Politik in den Augen des Publikums und das Publikum in den Augen der Politik polarisiert ist“ (158). Zum anderen führe die Ausweitung einer „demoskopischen Dauerbeobachtung“ (159) der Gesellschaft zu einer beständigen Problematisierung möglicher Themenpolarisierungen. Diese gebe politischen Entscheider*innen die Möglichkeit, sich als Verteidiger eines ‚gesellschaftlichen Ganzen‘ zu inszenieren, nötige sie aber gleichzeitig zu Vorschlägen, wie der Sorge vor einer etwaigen ‚Spaltung der Gesellschaft‘ inhaltlich abzuhelfen wäre. Weil diese Polarisierungsbekämpfungsvorschläge dann wiederum polarisiert werden können, werde die kommunikative Polarisierung quasi „verdoppelt“ (162).
Owning the Libs – and the Cons
Das Problem mit Systemlogiken und Ordnungsmustern – das Kumkar natürlich selbst sieht (142, 173) – ist, dass das Allgemeine nur schwerlich das Besondere der Gegenwart erklären kann. Kumkars Essay ist in diesem Sinne zunächst als gelungene soziologische Abklärung und Herunterkühlung der überhitzten öffentlichen Debatte um Polarisierung zu verstehen. Wie einzelne andere Autor*innen[4], setzt Kumkar mit seiner systemtheoretisch inspirierten Perspektive und seinen konstruktivistisch-praxeologischen Einzelfallstudien ein gerechtfertigtes Fragezeichen hinter die Behauptung der Neuheit, Außerordentlichkeit und Dringlichkeit, die der Polarisierung als wesentlichem Schlagwort der letzten Jahre anhaften. Für ihn ist jede moderne Politik binär strukturiert. Gleichzeitig erteilt Kumkars Blick auf das Strukturelle – ebenfalls in kritischer Nähe zu anderen Sozialwissenschaftler*innen[5] – all jenen eine Absage, die meinen, Polarisierung an und für sich zu einem Übel deklarieren zu können. „Ohne ein Mindestmaß an Polarisierung“, so Kumkar in einem aktuellen Interview[6], „würde eine Demokratie vermutlich gar nicht funktionieren“.
Einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis, warum heute vieles anders ist, als es möglicherweise sein müsste, legt Kumkar wiederum im letzten inhaltlichen Kapitel vor. Unter Rückgriff auf eine programmatische Schrift des US-Libertären Murray Rothbard versucht er hier, genauer zu umreißen, was er als „Polarisierung im Leerlauf“ (173) beschreibt – nämlich einen Zustand, in dem Polarisierung von den drei beschriebenen systemischen Funktionalitäten losgelöst ist und freidreht. Die in diesem Zuge von Kumkar ausgearbeitete Argumentation liest sich als kreativer kommunikationstheoretischer Beitrag zu einer (Polarisierungs-)Theorie des Rechtspopulismus, „die man nicht begreift, wenn man sie in erster Linie über ihre vermeintlichen inhaltlichen Forderungen zu erklären sucht“ (175). Denn für Kumkar begründet das aktuelle rechtspopulistische Playbook, das „Polarisierung direkt zum Programm erhebt“ (172), letztlich sowohl, „warum die Pole da sind, wo sie sind“ (172), als auch, warum die etablierte Politik sich dermaßen schwertut, die Rechtspopulist*innen – wie so oft versprochen – ‚inhaltlich zu stellen‘.
Kurz gesagt: Gemäß Kumkar geht es Rothbard und seinen rechtspopulistischen Geistesverwandten im Kern gar nicht, wie oft behauptet, um die Vertretung und Durchsetzung politisch vernachlässigter Sachthemen. Mittelbares Ziel sei vielmehr das „Aufwiegeln der Massen“ (181) durch „quasirevolutionäres Spektakel“ (182). Erstens, so umschreibt Kumkar – ähnlich wie etwa Simon Strick[7] – die rechtspopulistische Strategie, sollten einzelne populistische Lichtgestalten einen fundamentaloppositionellen Hass auf politische Eliten medienwirksam performen. Auf diese Weise sollten empörte Abgrenzungsreaktionen der ‚liberalen Eliten‘ provoziert und dadurch bestehenden Marginalisierungserfahrungen in der Bevölkerung eine Identifikations- und Projektionsfläche geboten werden (187-189). Zweitens solle das politische System immer wieder mit polemischen Forderungen konfrontiert werden, die die ‚konservativen Eliten‘ unmöglich in der geforderten Radikalität zu vertreten und umzusetzen vermögen. An ebendieser Unfähigkeit werde dann angesetzt, um dem verbreiteten Hass gegen ‚die Politik‘ einen Kristallisationspunkt zu geben. Ziel der rechtspopulistischen Strategie sei also nicht ernsthaft, eine Einlösung der inhaltlichen Forderungen, „stattdessen soll sich die Politik an diesen Forderungen blamieren, damit man die Massen für die eigene Fundamentalopposition gewinnt“ (183). Der aktuelle Rechtspopulismus laufe somit im Kern auf eine „Form der heißlaufenden, aber eigentümlich hohldrehenden Polarisierung“ (34) hinaus.
Lost in Polarisation?!
Kumkars Annahme, dass Rothbards anti-staatliche libertäre Strategie tatsächlich „über den national spezifischen Fall des Trumpismus hinaus verallgemeinerbar“ (176) ist und sich auf eine in Deutschland traditionell etatistisch geprägte, völkische Programmatik des Rechtspopulismus umlegen lässt, ist nicht ganz trivial. Anzeichen für den skizzierten Polarisierungsleerlauf sind dennoch unverkennbar. Und auch die selbstbewusste Einrichtung der Rechtspopulist*innen in der Rolle der Systemgefährder*innen, von der Kumkar schreibt, steht klar zutage und zieht politischen Diskurs nachhaltig ihren Bann. Kaum eine Politikposition wird heute ohne den Verweis formuliert, dass jede andere denkbare Option die AfD stärken würde.
Sind die demokratischen Gegenwartsgesellschaften also in systemfunktionalen Polarisierungsdynamiken und dem „ein Stück weit selbsttragend[en]“ (183), rechtspopulistischen Polarisierungsleerlauf gefangen? Folgt man Kumkar, dann muss man annehmen, dass „Polarisierung […] in praktisch-politischer Hinsicht nahezu unvermeidlich“ ist und dass es „ohne systemgefährdende Polarisierung dauerhaft gar nicht geht“ (35). Gäbe es die Polarisierung nicht bereits, so müsste sie erfunden werden – und sie werde es de facto ja auch, bloß dass diese kommunikative Erfindungspraxis eine tatsächlich folgenreiche Polarisierungsrealität konstituiert.
Handlungsoptionen gegen den rechtspopulistischen Polarisierungsleerlauf hält Kumkar vor diesem Hintergrund pragmatisch für begrenzt. Seine systemtheoretisch geerdete Perspektive läuft darauf hinaus, Realität und Notwendigkeit von kommunikativer Polarisierung als „neue[n] Normalzustand“ (236) anzuerkennen. Ihm schwebt aber vor, durch „eine alternative Alternative den Raum der rechtspopulistischen Parteien ein[zu]engen“ (238 f.). Eine Fokussierung auf eigenständige Ziele und das Beanspruchen einer eigenen Kritik am politisch-ökonomischen Status Quo, statt der Versuch eines Navigierens innerhalb der vom Rechtspopulismus heraufbeschworenen Diskursmatrix, wäre für ihn die politisch-normative wie soziologisch adäquate Option: „Polarisieren, aber richtig“ (35, 235 f.).
A Little More Conversation, A Little More Action…
Ob ein entsprechendes anders-polarisierendes Projekt möglich und hilfreich ist, bleibt eine Frage, die am Reißbrett der Theorie kaum abschließend zu beantworten ist[8]as gleiche gilt für die Frage, ob – um Kumkars ironischen Einwand gegen die Einstellungsforschung ironisch zu paraphrasieren – ‚die völlig zutreffende Erkenntnis, dass wir nach Maßgabe der Systemtheorie in einer polarisierungsbedürftigen Gesellschaft leben‘, den Menschen in ihrem praktischen Erleben von Polarisierung als Problem hilft. Am theoretischen Entwurf von Kumkar lassen sich – bei aller analytischen Schärfe und sprachlichen Brillanz – dennoch zwei Punkte monieren:
Zunächst zielt ein grundsätzlicher Einwand auf Kumkars ‚Ausgangswette‘. Hier bleibt fraglich, ob das Phänomen ‚kommunikativer Polarisierung‘ als „Ausstellen von Meinungsdifferenz entlang eines zweiwertigen Schemas“ (217) konzeptuell tatsächlich hinreichend beschrieben ist. Kumkars analytischer Schritt, das ‚Polarisierungserleben‘ von der polemischen Praxis des Schreiens am Weihnachtstisch in die logische Form eines binären Ordnungsmusters zu überführen, führt sowohl die Polarisierungssemantik als auch das Verständnis von Kommunikation übermäßig eng[9]. Denn mit der ‚Themenpolarisierung‘ wird von Kumkar stillschweigend auch ein affektives Moment definitorisch „beiseitegeschoben“ (59 f.), ohne das die Analyse (des Problems) von Polarisierung schlichtweg nicht auskommt. So muss auch Kumkar, um systemische Dynamiken und deren aktuelle Dysfunktionalitäten zu erklären, in seiner Untersuchung immerzu auf affektive Treiber und Katalysatoren zurückgreifen, die innerhalb seines ordnungszentrierten Polarisierungs- und Kommunikationskonzepts selbst keinen Ort haben: Enttäuschung, Wut, Unmut, Hass, Angst, Frustration, Langeweile… – und vielleicht auch Freude, Lust und Eitelkeit? Ebenso bleiben Rhetoriken und Artikulationsstile, die Dringlichkeit vermitteln und Grenzüberschreitungen inszenieren, definitorisch außen vor. Notwendig scheint es daher, das Konzept ‚kommunikativer Polarisierung‘ weniger einseitig von seiner logischen statt auch von seiner konversationspraktischen Seite her zu bestimmen[10].
Darüber hinaus lautet eine weiterführende Anmerkung, dass in Kumkars strukturzentriertem Blick eine Analyse ähnlich bedeutsamer dynamischer Faktoren bislang recht kurz kommt. Auch jenseits der Rechtspopulist*innen liegen in jedem von Kumkar untersuchten Bereich spezifische Akteur*innen und Prozesse auf der Hand, die mit der Funktionalität der beschriebenen Strukturen nur wenig zu tun haben, aber wohl maßgeblich zu deren Dysfunktionalität und Leerlauf beitragen. Zum Beispiel: Trolle und Plattformoligopole in der digitalen Sphäre; das Verstopfen etablierter institutioneller Inklusionskanäle (etwa Parteien) und die sozialstrukturell ungleiche Teilnahme am politischen Prozess; der Niedergang des Lokaljournalismus, wachsende Medienimperien oder die Anpassungsprobleme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an die neue mediale Öffentlichkeit. Eine weitergehende Analyse solcher dynamischen Faktoren würde nicht nur eine Differenzierung unterschiedlicher Grade von Polarisierung ermöglichen und die konkrete Bedeutung von Strukturlogiken in der Erklärung des aktuellen Polarisierungserlebens konturierend ins Bild setzen. Sie könnte auch funktionale Alternativen zur politischen Strategie einer (leerlaufenden) kommunikativen Polarisierung ausweisen, die bei Kumkar kaum zur Sprache kommen. Die herkömmlichsten Optionen wären hier wohl: Die Regulierung von Plattformunternehmen, die Stärkung sozialer und politischer Teilhabe, neue Medienstrukturen… und die Entscheidung, unterm Tannenbaum auch mal fünfe gerade sein zu lassen.
Man mag in diesem Sinne nicht jeder Schwerpunktsetzung oder Reflexionsschleife des Autors folgen wollen und nicht jeder seiner Thesen oder Politikempfehlungen zustimmen. Der Produktivität von Kumkars „Lockerungsübung“ (13) tut das freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil: Allein, dass man eigene kritische Erwägungen nach der Lektüre theoretisch besser verorten und konzeptuell präziser bestimmen kann, ist ein Verdienst, das diesem hochgradig instruktiven Essay anzurechnen ist.
Anmerkungen:
[1] Am öffentlichkeitswirksamsten sicherlich: Mau, Steffen/ Lux, Thomas/ Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp.
Siehe darüber hinaus auch: Teney, Céline/ Pietrantuono, Giuseppe/Wolfram, Tobias (2024): What Polarizes Citizens? An Explorative Analysis of 817 Attitudinal Items From a Non-Random Online Panel in Germany, in: PLOS ONE 19 (5), online; sowie den Preprint: Pless, Anna/ Khoudja Yassine/Grunow Daniela (2023): How Polarized is Europe? Public Opinion Disagreement, Issue Alignment, and Sorting Across European Countries. In: SocArXiv, online unter https://doi.org/10.31235/osf.io/qrgmp [letzter Zugriff: 01.10.2025].
[2] Etwa hebt Rainer Forst mit Blick auf den ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘ das grundlegend „Chamäleonhafte“ dieses Begriffs und des verbreiteten Begriffsverständnisses hervor (Forst, Rainer (2020): Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Zur Analyse eines sperrigen Begriffs, in: Deitelhoff, Nicole/ Groh-Samberg, Olaf/ Middell, Matthias (Hg.): Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog, Frankfurt a.M./ New York: Campus, S. 41–53, hier S. 42). Bezüglich des Terminus ‚Polarisierung‘ zeigen zum Beispiel Jochen Roose und Elias Steinhilper einführend unterschiedliche Facetten auf (Roose, Jochen/ Steinhilper, Elias (2022): Politische Polarisierung. Zur Systematisierung eines vielschichtigen Konzepts, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 35 (2), S. 283–297.). Florian Buchmayrs Vergleich unterschiedlicher Möglichkeiten, Einstellungspolarisierung zu messen, gibt einen weiterführenden Eindruck in den komplexen Interpretationsspielraum der Polarisierungssemantik (Buchmay, Florian (2024): Politische Einstellungspolarisierung in Deutschland. Eine Längsschnittuntersuchung mit Daten des ALLBUS 1980–2021, in: Soziale Welt 75 (1), S. 5–44.).
[3] Lempp, Sarah (2025): „Polarisierung löst sehr viele Probleme sehr gut“ – Nils C. Kumkar im Gespräch über sein neues Buch, in: Zusammenhalt begreifen, online unter https://doi.org/10.58079/14lcm [letzter Zugriff: 01.10.2025].
[4] Am öffentlichkeitswirksamsten wiederum: Kaube, Jürgen /Kieserling, André (2022): Die gespaltene Gesellschaft, Berlin: Rowohlt.
[5] Schmelzle, Cord (2021): Ist Polarisierung schlecht für die Demokratie? in: Blätter der Wohlfahrtspflege 168 (2), S. 51–54; Deitelhoff, Nicole/ Schmelzle, Cord (2023): Social Integration Through Conflict. Mechanisms and Challenges in Pluralist Democracies, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholog 75 (Suppl 1), S. 69–93.
[6] Schmidt, Till (2025): Nils C. Kumkar. „Ohne ein Mindestmaß an Polarisierung würde eine Demokratie vermutlich gar nicht funktionieren“, in: Philosophie Magazin, online unter https://www.philomag.de/artikel/nils-c-kumkar-ohne-ein-mindestmass-polarisierung-wuerde-eine-demokratie-vermutlich-gar [letzter Zugriff: 01.10.2025].
[7] Strick, Simon (2018): Alt-Right-Affekte. Provokationen und Online-Taktiken, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10 (19-2), S. 113–125.
[8] Mit Blick auf eine solche ‚nicht-rechte Polarisierung‘ sind freilich sehr unterschiedliche Zugänge denkbar. Verwiesen sei hier nur kurz auf: Habermas, Jürgen (2016): Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2016 (11), S. 35–42; Mouffe, Chantal (2018): Für einen linken Populismus, Berlin: Suhrkamp.
[9] Mit Kumkar gegen Kumkar gesprochen, ließe sich hier fragen, ob der kommunikationsinteressierte Soziologe Kumkar nicht seinerseits geneigt ist, eine Deutung in den Polarisierungsbegriff „hineinzulegen“ (57), die seinem sozialen Standpunkt und den damit verbundenen Problemen näherkommt als einem umfassenden ‚Überlegungsgleichgewicht‘.
[10] Klarer als in seinem hier rezensierten Essay greift Kumkar diese affektive Dimension in einem früheren Aufsatz auf. Da dieser Aufsatz zahlreiche Argumentationsstränge des Essays bereits vorbereitet oder andeutet, ist es umso überraschender, dass die dort ins Zentrum gestellte Affektivität keine eigenständige Rolle in Kumkars neuerem Konzept der ‚kommunikativen Polarisierung‘ erhält (Kumkar, Nils C. (2024): Das Böse dahinter. Verschwörungstheorie, Populismus und die Kommunikation affektiver Polarisierung, in: Zeitschrift für theoretische Soziologie 13 (1), S. 114–140.).
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